Ein Plädoyer für mehr Wohlbefinden im Handel

Das regelmäßige Entdecken von neuen Ladengeschäften gehört zu meinen Leidenschaften. Die Räume wahrnehmen, die Geschichten hinter dem Leistungsspektrum erleben und in die Dramaturgie der Verkaufsbühne eintauchen – immer wieder eine faszinierende Reise. Aber ich gebe zu, dass es auch mir aktuell schwerfällt, unbekümmert durch die Ladengeschäfte zu schlendern. Die Ausläufer der Corona-Pandemie trüben meine Freude und mein Wohlbefinden – ob ich will oder nicht.

Als Menschen kehren wir naturgegeben dorthin zurück, wo wir uns wohlgefühlt haben und meiden Orte, die uns eingeschränkt bzw. belastet haben. Wenn wir uns einmal wegen eines Luftzuges im Restaurant eine Verspannung im Nacken eingeholt haben, von der Verkäuferin mürrisch behandelt worden sind oder uns im Laden oder auf dem Parkdeck nur schwer orientieren konnten, wird die Chance einer Wiederkehr deutlich reduziert. Diese (oft multisensorischen) Störfaktoren halten uns vom Kaufen ab und treiben uns im schlimmsten Fall aus einem Laden heraus – sozusagen unter dem Radar, da diese Vermeidung dem Unternehmen meistens unerkannt und unergründet bleibt.

Wird über Wohlbefinden diskutiert, endet man häufig im Unspezifischen. Eine differenzierte Bewertung, zum Beispiel der Ladenatmosphäre, gestaltet sich eher schwierig, da die meisten von uns verlernt haben, unsere Umgebung bewusst und mit allen unseren Sinnen wahrzunehmen – was nicht verwunderlich ist, denn schließlich ist das Gefahrenpotenzial um uns herum (zum Glück) auch nicht mehr so ausgeprägt wie vor 5.000 Jahren. Viel mehr schützen wir uns mit einer Vermeidung des Ladens oder einer selektiven Wahrnehmung vor zu vielen, respektive störenden, Reizen. Produktinnovationen, Deckenhänger, Displays, digitale Schnittstellen etc. werden gerne übersehen, weil wir z.B. über ein habitualisiertes Verhalten vieles ausblenden. Sowohl die selektive Wahrnehmung als auch die (stille) Vermeidung des Ladenlokals besitzen für den Handel ein erhebliches Verlustpotenzial. Nicht der Wettbewerb oder der digitale Kanal, sondern die eigenen (unerkannten) Störfaktoren tragen dabei zur Kundenabwanderung bei.

Müsste daher nicht konsequenterweise das Wohlbefinden stärker in den Managementfokus rücken?

Einen verloren gegangenen Kunden zurückzugewinnen ist bekanntlich nicht ganz einfach. Und Hand aufs Herz: Kunden, die nur aufgrund von fehlenden Alternativen bei mir einkaufen, sind nicht wirklich glückliche Kunden.

Aber wie macht man das Wohlbefinden greifbar? Hier beginnt die Krux. Die Wohlfühlatmosphäre in einem Verkaufsraum ist eine unsichtbare und nur indirekt messbare Größe. Solange das Wohlbefinden aber nicht greifbar ist, rutscht die Dimension sehr schnell in die Esoterik ab. Deshalb hier nachfolgend ein Versuch der Annäherung in sechs Schritten:

1. Wohlbefinden ist kein neues Phänomen

Die Verhaltensmuster des Menschen entstammen nicht den Moden der letzten Jahre oder Jahrzehnte, sondern gründen auf den kodierten (gesellschaftlichen) Erfahrungen, welche 20.000 und mehr Jahre zurückliegen. Obwohl wir uns gerne als Speerspitze der (digitalen) Zivilisation sehen, sind viele Verhaltensweisen Relikte aus einer längst vergangenen Zeit. Diese Gesetzmäßigkeiten werden oft als «Codes» oder «Brain Scripts» bezeichnet und lenken unsere Entscheidungen weit stärker als unsere rationalen Überlegungen. Eine Erkenntnis, die unserem Ego nicht wirklich zuträglich ist. Was bedeutet dies für den Handel? Aufgrund dieser Gesetzmäßigkeiten ist eine ganze Industrie entstanden, die die Kaufreize der Menschen zu stimulieren versucht. Ob in der Werbewirtschaft, im Produktmanagement oder im Ladenbau. Aber wie viel Wert ist dieses Wissen, wenn der Mensch nicht im Mittelpunkt steht?

2. Ladenbau sollte beim Menschen beginnen

Sich wohl zu fühlen entspricht einer tiefen Sehnsucht der Menschen – gerade auch in unsicheren und hektischen Zeiten. Bei der Betrachtung vieler Ladenkonzepte ist auffällig, dass die Grundregeln des Wohlbefindens wohl oft nicht im Detail bedacht worden sind. Zu oft wird gegen die Natur des Menschen konzipiert. Stattdessen prägen bauliche Vorgaben und Restriktionen bzw. Vertriebsziele den Raum. So zum Beispiel, wenn der Kunde gezwungen wird, den Hauptloop in entgegengesetzter Richtung zu laufen, weil die Sortimente nicht sequenziell angeordnet sind. Oder wenn Displays als Aktionsstraßen in die Hochfrequenzzonen aneinandergereiht werden. Oder wenn Regale mit sensiblen oder erklärungsbedürftigen Produkten im Kundenstrom platziert sind. Druck erzeugt meistens kein Wohlbefinden, sondern ein Vermeidungsverhalten.

Weshalb kommt es überhaupt dazu? Für die Gestaltung einer Wohlfühlatmosphäre bedarf es eines Einfühlvermögens – eine Kompetenz, die in unserer schnelllebigen Zeit eher unterdotiert ist. Unternehmen, die sich die «Customer Journey» als Leitfaden zunutze machen, um – vom Kunden her denkend – eine idealtypische Kundenreise nachzuzeichnen, kommen einer kundenzentrierten Ladengestaltung deutlich näher. «Start with the customer and work backward» wird Jeff Bezos, dem Gründer von Amazon nachgesagt. Der Perspektivenwechsel eröffnet die Chance, potenzielle Bruchstellen, Lücken und Qualitätsmängel entlang der «Customer Journey» sichtbar zu machen.

Nicht unter dem Aspekt der Identifikation von Umsatzpotenzialen, sondern dem Ziel, das Wohlbefinden – und damit den Sog – zu erhöhen.

3. Das Wohlbefinden ist ein Gesamtkunstwerk

Der Mensch nimmt seine Umgebung mit allen Sinnen wahr: Sehen, Riechen, Fühlen, Schmecken und Hören. Und das alles gleichzeitig. Deshalb ist es sinnvoll, auch als Händler den Raum ganzheitlich wahrzunehmen und vor allem zu gestalten und zu pflegen. Zentrale Herausforderung ist dabei die bewusste Orchestrierung der vielfältigen Sinnesreize. Denn eine Inkongruenz der Reize kann das Wohlbefinden des Kunden entscheidend negativ beeinträchtigen. Das harmonische Zusammenspiel der Reize führt dabei zu einer multisensorischen Verstärkung. Das heißt, das Erlebte bleibt uns deutlich länger präsent. Zwar wird der größte Teil unserer Wahrnehmung über den Sehsinn aufgenommen. Dies sollte jedoch nicht dazu führen, dass die restlichen Sinne im Ladenbau vernachlässigt werden. Natürlich ist es schwieriger, bei der Layoutplanung die Auswirkungen der Gestaltung auf den Geruchssinn darzustellen. Wenn jedoch zwischen der Lagertür und dem Haupteingang ein Luftzug durch den ganzen Laden hindurch entsteht, ist dies durchaus relevant. Wer käme denn darauf, dass der nicht erreichte Umsatz auch durch den unangenehmen Luftzug zu begründen ist? Nicht die formschönen Theken oder das fantastische Lichtkonzept sind am Schluss ausschlaggebend für den Erfolg, sondern oftmals das Abstellen von Störfaktoren. Dazu können das Vermeiden von zu vielen Deckenhängern, Displays oder Bodenkleber zählen, eine inkonsistente Farbführung (z.B. das gleiche Violett für die Käsetheke und für die Dessous-Abteilung), die laute und unruhige Atmosphäre oder die fehlende Hygiene in der Umkleidekabine.

4. Wohlbefinden ist keine «Flagship Store-Disziplin»

Mit Wohlbefinden wird schnell Erlebnis, Inszenierung, Inspiration, Design, Prestige und hohe Investitionen verbunden. Es entstehen Flagship Stores, die die Marke zum Glänzen und den Kunden zum Staunen bringen sollen. Das ist sicherlich legitim – greift aber viel zu kurz. Die Regeln des Wohlbefindens gelten auch – und insbesondere – im Alltag. Wohlbefinden ist nicht Kür, sondern Basis und kann und soll deshalb in jedem Format eine positive Wirkung erzeugen.

In den «Alltagsformaten» ist aber zu oft die operative Hektik und Improvisation zu spüren.

Enge Gänge, dunkle Bereiche, zerkratzte Möbel oder Bodenplatten, Röhrensysteme an der Decke und ein sonores Brummen der Kühlelemente oder der Klimaanlage sind nur einige Indikatoren dafür, dass der Handel zu oft einen reinen Versorgungsauftrag übernimmt. Inspiration und Erlebnis – so scheint es – ist an die Vorzeigeformate ausgelagert worden. Stattdessen muss klar sein: Jeder Laden kommuniziert mit seinen sensorischen Eindrücken, jedes Geschäft trägt zum Bild bei, das die Kunden in ihren Köpfen mit dem Händler verbinden. Diese sensorische Kommunikation in der kleinsten Zelle d.h. in der einzelnen Filiale zu steuern, kann mehr Erfolg bringen, als es einzelne Flagship Stores vermögen.

5. Wohlbefinden unterliegt einer Dramaturgie

Die Dramaturgie setzt eine (Retail-)Idee in Form einer durchgängigen Story um. Dabei findet ein Wechsel zwischen Spannung und Entspannung statt. Durch die ausbalancierten Impulse wird die Gleichförmigkeit einer Ladengestaltung aufgebrochen und ein Spannungsbogen aufgebaut – ohne dass die Ladenfläche zum Rummelplatz werden muss. Ausgangspunkt und Roter Faden stellt dabei die Retail-Marke dar. Abercrombie & Fitch hat zum Beispiel eine Konsistenz ihrer Reize geschaffen, die vom Türsteher über den Raumduft bis zum Produkt an sich reicht – und ist damit bei der Zielgruppe lange erfolgreich gewesen. Die Dramaturgie muss (und sollte) dabei nicht jedem gefallen. Sobald man jedem gefallen möchte (weil in zusätzlichen Kundenschichten noch ein Umsatzpotenzial gesehen wird), wird das Profil Schritt für Schritt verwässert und versinkt im Einheitsbrei.

Es ist vielmehr notwendig, die Markenwerte bzw. das Leistungsversprechen zunächst klar zu konturieren. Die Herausforderung besteht danach darin, diese Werte in die einzelnen Sinne zu übersetzen. Passen z.B. die Bildsprache, die Farbenwelt, die Regalformen, das (kuratierte) Sortiment, der Duft und die Geräuschkulisse zur Marke? Entsteht durch den Laden hinweg eine Wellenbewegung von Spannungs- und Entspannungselementen? Oft ist zu beobachten, dass in der ersten Hälfte des Ladens ein Feuerwerk der Emotionen abgefeuert wird (z.B. Frischezonen und -theken im Lebensmittelbereich) und in Richtung Kasse dann eine gähnende Leere durch lieblos aneinandergereihte Lagerregale voll von Non-Food-Sortimenten wahrnehmbar ist. Dies trägt dazu bei, dass die Laufgeschwindigkeit erhöht wird und die Sortimente kaum Beachtung finden. Ursache für den Umsatzrückgang dieser Segmente ist dann nicht unbedingt in erster Linie die Online-Konkurrenz, sondern die fehlende Dramaturgie in der Ladenlayoutgestaltung.

6. Wohlbefinden wird im Netzwerk erbracht

Weil die Entwicklung eines Gesamtkunstwerks die Expertise aus sehr vielen unterschiedlichen Fachbereichen erfordert, ist die Ladengestaltung nur über eine Vernetzung der Organisation möglich. Eine sequenzielle und siloartige Planung des Layouts führt nicht zur Verschmelzung der Sinnesreize. Wenn die Category Manager, die Vertriebsverantwortlichen, die Layouter, die Lichtspezialisten, die Regalbauer und die Marktforscher ihre Expertise und Leistungen nicht verzahnen, entsteht eine Disharmonie, nicht nur in der Zusammenarbeit, sondern auch in der Wahrnehmung des Raums. Deshalb ist ein Ausbrechen aus dem technokratischen Silodenken relevant und zukunftssichernd. Schließlich sieht der Kunde nicht die einzelne Leistung (z.B. nur den Bodenbelag), wenn er den Markt betritt, sondern er nimmt das Ganze wahr.

Und was nun?

Es wird deutlich, dass das Wohlbefinden nicht in eine kurzfristig denkende Management- und Marketingwelt hineinpasst. Aber: dem Kunden mit allen (sensorischen) Mitteln das Gefühl zu vermitteln, ein willkommener Gast zu sein, wird zu einem wesentlichen Teil über die Zukunft des stationären Handels entscheiden. Doch wo setze ich nun an – ohne jetzt gleich ein Psychologiestudium nachholen oder teure Berater ins Haus holen zu müssen? Es sind grundsätzlich folgende fünf Dimensionen, die in der Gestaltung des Raumes zu berücksichtigen sind:

  • Wertschätzung: Das Gefühl des «Willkommen-seins» beim Eintreten und während des gesamten Aufenthalts. Grundsätzlich gelingt dies natürlich in erster Linie durch die Gastgeberrolle des Personals. Aber auch durch das Ladenlayout lässt sich die Wertschätzung verkörpern. Zum Beispiel durch eine freie Willkommenszone im Eingangsbereich, die mir als Kunde die Möglichkeit gibt, anzukommen und einen ersten Überblick zu erlangen. Oder dadurch, dass ich nicht zu etwas gezwungen werde. So z.B. die Toiletten, das Servicebüro oder der Click-und-Collect-Schalter im entferntesten Ladenbereich.
  • Matching: Bestätigung der richtigen Geschäftswahl, indem ich schnell erkennen kann, dass das Leistungsspektrum zu meinem Motiv passt. Dazu ist es erforderlich, dass die Handschrift des Unternehmens schnell erkennbar wird.
  • Intuitive Orientierung: In sich abgeschlossene und sequenziell angeordnete Sortimentswelten können ein schnelles Zurechtfinden unterstützen. Dies schließt die Farbführung, die Setzung eines Leitfokus und die Regallesbarkeit ein. Die kognitive Landkarte der Kunden ist hierbei ausschlaggebend – und nicht die prozessualen und baulichen Restriktionen.
  • Dramaturgie: Die Ladenfläche stellt die narrative Bühne für das kuratierte Leistungsspektrum dar. Dabei ist das Wechselspiel zwischen Spannung und Entspannung ausschlaggebend. Ein Ladenkonzept mit zu vielen Feuerwerken kann ermüdend wirken.
  • Multisensorische Harmonisierung: Sämtliche Sinnesreize in einem Raum (u.a. Form, Farbe, Geruch, Geräusche) sollten aufeinander abgestimmt sein. Nur so entsteht eine Wohlfühlatmosphäre, die zur Wiederkehr einlädt.

Dazu brauchen Sie, wie gesagt, kein Psychologiestudium, sondern nur die Muße, in sich hineinzuhorchen und die Umwelt bewusst wahrzunehmen. Filialbesichtigungen, die auf Regallücken, Arbeitspläne und Kennzahlenstudium beschränkt sind, können dazu nicht sonderlich viel beitragen. Gehen Sie beim nächsten Gang noch bewusster mit offenen Augen, gespitzten Ohren, sensibler Nase und feinfühligen Füssen durch den Laden und Sie werden sehen, riechen, hören und spüren, was Ihr Wohlbefinden – und das Ihrer Kunden – beeinträchtigt.

Bild Quelle: shutterstock by Von G-Stock Studio

1 Kommentar. Hinterlasse eine Antwort

  • Reimund Baumheier
    4. Januar 2021 18:37

    Es gibt nichts zu diskutieren. Aus meiner Erfahrung weiß ich, dass ihre Ausführungen absolut richtig sind und im hohen Maße zur Kundenbindung beitragen.
    Ich danke Ihnen für diesen Artikel und werde heute selbstverständlich das Buch bei Amazon bestellen.

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